In der deutschen Sprache unterscheiden wir zwei Formen der Anrede. Wir können einen anderen Menschen mit „du“ oder „Sie“ ansprechen. Dabei wird das Sie als Höflichkeitsform beschrieben, während das Duzen als pronominale Anrede traditionell Familie und Freunden vorbehalten ist. Doch der Trend geht immer mehr zum Duzen. Denn es wird immer deutlicher, dass das Sie nichts (mehr) mit Höflichkeit zu tun hat. Das erkennt man auch beim Vergleich mit der englischen Sprache.
Die Geschichte der Anrede
Die Höflichkeitsform entstand in einer Zeit, in der es wirklich noch viele Hofstaaten gab, nämlich ab dem 12. Jahrhundert. In der Geschichte der deutschen Sprache begann ungefähr zur gleichen Zeit die Epoche des Mittelhochdeutschen. Den Königen, Fürsten oder anderen Herrschern sollte man mit Respekt und auch einer gewissen Distanz begegnen. Eine wichtige Funktion des Siezens ist bis heute der Umgang mit Vorgesetzten oder allgemein mit höherrangigen Personen. Parallel dazu gab es damals für als besonders herausragend wahrgenommene Personen noch eine Anrede, die heute nur noch in Ausdrücken wie „Euer Ehren“ oder „Eure Eminenz“ erhalten geblieben ist, nämlich Formen von „Ihr“.
Das Duzen war lange Zeit im Wesentlichen den Familienmitgliedern und engen Freunden vorbehalten. Erst durch die Abschaffung des Adels und die Lockerung des gesellschaftlichen Umgangs verbreitete sich das „du“ in immer mehr Bereiche. Auch der Einfluss der englischen Sprache und die Globalisierung spielen eine Rolle.
Die grammatische Kuriosität der Höflichkeitsform
Grammatisch gesehen sind diese pronominalen Anredeformen ziemlich kurios. Denn sowohl beim Siezen als auch beim altertümlichen Ihrzen wird das Verb im Plural verwendet, auch wenn nur eine einzige Person angesprochen wird. Es heißt nicht „Frau Müller, bitte hilf Sie mir“, sondern „Frau Müller, bitte helfen Sie mir“. Wir haben hier eine Konstruktion, die in Verbindung mit dem Pluralis Majestatis steht, wie er von Herrschern bekannt ist.
Eine Verwechslungsgefahr gäbe es jedoch höchstens bei deklinierten Formen des „Sie“ und auch das nur in der gesprochenen Sprache. Denn schriftlich ist der Unterschied „Frau Müller, ist das Ihre Tasche?“ (eigene Tasche), sondern „Frau Müller, ist das ihre Tasche?“ (die Tasche einer anderen weiblichen Person) allein schon durch die Großschreibung deutlich und der Kontext hilft natürlich auch.
Wie die unterschiedlichen Anreden im Englischen verschwanden
Die englische Sprache hat im Laufe ihrer Geschichte viele Formen und Endungen verloren. Der große Schriftsteller William Shakespeare schrieb in seinem berühmten Werk Macbeth beispielsweise noch Sätze wie: „Thou shalt get kings, though thou be none.“ Denn damals gab es noch eine Unterscheidung zwischen thou und you sowie unterschiedliche Formen für Subjekt und Objekt. Beim Übergang vom Frühneuenglischen zur modernen Version gingen diese Unterscheidungen verloren und es blieb nur noch das you.
Heutzutage ist dieses Wort die einzige Anrede. Egal ob ich jemanden nach deutschen Maßstäben duzen oder siezen würde, egal ob ich um Hilfe bitte oder Hilfe anbiete, es ist immer you: „Can you help me, please?“ – „May I help you?“ Interessant ist hierbei, dass es bei den anderen Pronomen, die keine Anredeform sind, durchaus noch Unterscheidungen zwischen Subjekt und Objekt gibt, wie in den Beispielsätzen zwischen I und me.
Ist das Duzen als Anrede respektlos?
Sind die Engländer oder andere Englisch sprechende Personen nun respektlos oder weniger höflich, weil sie die Unterscheidung zwischen zwei Anredeformen abgeschafft haben? Nein, natürlich nicht. Man könnte sogar sagen, dass sie besonders respektvoll sind, weil ja das thou, also die ursprüngliche Entsprechung zu unserem Du weggefallen ist. Übrigens gab es auch in anderen Sprachen Entwicklungen hin zu nur einer Anredeform, zum Beispiel die Du-Reform in Schweden.
Du bei Kollegen, im Sport und online
Mit den meisten Menschen in meinem Leben, mit denen ich täglich oder zumindest regelmäßig zu tun habe. Das betrifft neben Familie und Freunden meine direkten Kollegen bei der Arbeit. In diesen Fällen bin ich in eine Gruppe sich duzender Menschen aufgenommen wurden oder es wurde mir angeboten. Ebenfalls üblich ist das allgemeine Duzen im Sport. Hier lässt es sich wohl auch damit begründen, dass man gemeinsam gekämpft, egal ob es gegen den inneren Schweinehund im Fitnesstraining oder um den Erfolg einer Sportmannschaft geht. Das gemeinsame Kämpfen erzeugt ein Zusammengehörigkeitsgefühl und damit die Grundlage für das vertraute Du.
Einen weiteren Bereich, in dem das Duzen als Anrede weit verbreitet ist, stellt die große, weite Welt des Internets dar. So erklärt die Wikipedia beispielsweise, „warum sich hier alle duzen“. Dabei verweist sie auf die Entstehungsgeschichte der Online-Enzyklopädie und des Internets allgemein. Obwohl das WWW natürlich Menschen aller Altersklassen offensteht, sind die eher jüngeren Menschen die intensiveren Nutzer. Dementsprechend geht auch Ansprache von Kunden nicht nur bei einem schwedischen Möbelhaus immer mehr zum Duzen über. Ist das problematisch? Nein, solange es freundlich und authentisch wirkt.
Ein vernünftiger Umgang liegt nicht an der Anrede
Damit kommen wir zum entscheidenden Punkt. Wenn ich jemanden sieze, zum Beispiel im Kontakt mit einer Behörde, einem Kundenservice oder gegenüber fremden Menschen in der Öffentlichkeit, liegt das nicht daran, dass ich diesen Menschen gegenüber in Ehrfurcht versinke. Es ist eher ein Ausdruck davon, dass ich diese Menschen nicht persönlich kenne oder eine gewisse Distanz zu ihnen habe. Das Siezen ist mehr eine gesellschaftliche Norm statt einer Höflichkeitsform.
Denn sonst hieße es ja umgekehrt, dass ich gegenüber meinen Freunde und anderen Menschen, die ich duze, unhöflich und respektlos wäre. Aber da ist natürlich das Gegenteil der Fall. Je wichtiger und vertrauter mir ein Mensch ist, desto selbstverständlicher ist das Du. Ein vernünftiger Umgang zeigt sich nicht bei der Frage Du oder Sie. Er zeigt sich daran, dass ich vernünftig mit den Menschen rede, ihnen aufmerksam zuhöre, ihnen helfe und mich allgemein freundlich verhalte.