„Die Bücherdiebin“ zeigt die Kraft der Worte

Was können Worte alles bewirken? Diese Frage wirft der Roman auf, den ich zuletzt gelesen habe. Eine dreistellige Anzahl von Büchern habe ich in meinem Leben schon gelesen, aber kaum eines davon hat mich so beeindruckt wie „Die Bücherdiebin“. Dabei habe ich in diesem Fall erst zweimal die Verfilmung gesehen, bevor ich mich mit dem Buch beschäftigt habe. Der Autor Markus Zusak erzählt darin die Geschichte eines Mädchens, das von der Analphabetin durch das Lesen zur Gegnerin des Nationalsozialismus wird und mit positiven Worten der negativen Rhetorik etwas entgegensetzt.

In den Büchern findet die Protagonistin die Kraft der Worte.

Analphabetin wird begeisterte Leserin: Wie Liesel sich entwickelt

Im Mittelpunkt des Romans steht die junge Liesel Meminger, die zur Zeit des Nationalsozialismus im fiktiven bayerischen Ort Molching lebt. Ihr Bruder ist auf der Zugfahrt dorthin gestorben und sie muss sich auch von ihrer leiblichen Mutter trennen, die eine Kommunistin ist. So wächst sie bei Pflegeeltern auf. An der Schule fällt sie als Analphabetin auf, weiß sich aber zu wehren und findet Rudy als ersten Freund in ihrem Alter.

Ihre Entwicklung zum lesebegeisterten Mädchen beginnt in einer Zeit, in der der Tod allgegenwärtig ist, ausgerechnet mit einem Handbuch der Totengräber, das sie aufgehoben hat. Ihr Pflegevater Hans hilft ihr beim Lesen lernen und an der Kellerwand lernt sie auch schreiben. Sobald sie in der Welt der Literatur eingestiegen ist, kommt sie auf der Faszination für die Worte nicht mehr heraus. Sie möchte immer mehr Bücher lesen und wie der Romantitel schon andeutet, beschafft sie sich diese nicht immer auf die übliche Weise. Ihr Weg führt sie später auch in die große Bibliothek im Haus des Bürgermeisters, in eine Gesellschaft, zu der sie normalerweise keinen Zugang hat.

Positive Worte gegen Nazi-Rhetorik

Ein prägendes Erlebnis für Liesel wird eine Bücherverbrennung vor Ort. Für sie ist es natürlich ein absolutes No-go, Bücher zu zerstören. Alles, was mit den Nazis zu tun hat, wird im Roman eher angedeutet als klar benannt. Da fallen Sätze wie „Sie gingen nach Dachau, um sich zu konzentrieren.“ (S. 419). Aber der Terror und das Leiden im Krieg sind natürlich trotzdem die ganze Zeit zu spüren. Die Nationalsozialisten missbrauchen den Einfluss der Sprache für ihre Propaganda. Ihre Worte sind Lügen.

Als Liesel ein nicht verbranntes Buch aus dem literarischen Scheiterhaufen zieht, ist es ein erster Akt des Widerstands. Dieser Widerstand wird umso deutlicher, als der Jude Max Unterschlupf bei Liesels Pflegefamilie findet. Mit dem jungen Mann findet sie einen Verbündeten in der Ablehnung Hitlers. Später übermalt Max eine Ausgabe von Mein Kampf, um es Liesel als neu gestaltetes Büchlein „Der Überstehmann“ zu schenken (wobei die Seiten des Originals im Hintergrund durchschimmern). Ein erneutes kleines Zeichen des Widerstands, das sich anhand eines Buches zeigt. In einem weiteren selbst gestalteten Werk erklärt Max die Bücherfreundin zur „Worteschüttlerin“.

Liesel beeinflusst mit den positiven Worten im Laufe der Zeit auch andere Menschen. Sie lässt Max in seinem Versteck am Leben teilhaben. Bei Fliegeralarm beruhigt sie die Anwesenden im Luftschutzbunker durch Vorlesen aus ihren Büchern. Letztlich überlebt sie sogar einen Bombenangriff, weil sie genau in dem Keller, in dem sie das Schreiben gelernt hat, an ihrer Autobiografie arbeitet.

Wie klingt der Tod?

Die Frage, wie man so ein unbeschreibliches Verbrechen gegen die Menschlichkeit wie den Holocaust beschreiben kann, beschäftigt die Menschen schon seit den damaligen Ereignissen. Es gibt viele Ansätze von echten Tagebüchern Überlebender wie Anne Frank bis zu fiktionalen Romanen und Spielfilmen. Zusak wählt für „Die Bücherdiebin“ eine ganz besondere Lösung. Er wählt keinen geringeren als den Tod persönlich als Erzähler. Wir haben es also mit einer Personifikation zu tun.

Der Tod spricht selbst über eine Zeit, in der er allgegenwärtig ist. Die extrem hohen Opferzahlen des Krieges und des Holocausts werden dadurch deutlich, dass der Tod wie ein viel beschäftiger Mann erzählt, wie er sich ständig die sterbenden Menschen holt. So wird die Grausamkeit dieser Zeit intensiv erlebbar. Erst recht, als der Tod näher an die Protagonisten heranrückt.

Ein Roman, der Worte besonders gestaltet

„Die Bücherdiebin“ überzeugt nicht nur inhaltlich, sondern auch in der (sprachlichen) Gestaltung des Romans. Das Werk ist in mehrere große Teile untergliedert, die jeweils nach einem realen oder fiktiven Buch benannt sind. Die Titel reichen vom schon erwähnten Handbuch der Totengräber bis zum Duden-Bedeutungswörterbuch. Am Ende wird sogar „Die Bücherdiebin“ selbst zum Titel eines Teils. Dort ist ein Abschnitt des Romans also nach dem Roman benannt. Unter jeder dieser Überschriften sind Mitwirkende wie die Dramatis personae aufgelistet. Bei genauerem Hinsehen fällt auf, dass es sich hierbei um die Überschriften der folgenden Kapitel handelt.

Dieses Spiel auf mehreren Ebenen gibt es auch beim Erzähler. Wie gesagt agiert der Tod als Erzähler der Geschichte. Aber am Ende des Romans lässt sich erkennen, dass der Tod seinen Bericht auf der Autobiografie der Protagonistin Liesel aufgebaut, die er Jahre später in die Hände bekommen hat. Liesel hat ihre Worte wiederum durch die Beschäftigung mit Büchern und Erzählungen anderer Menschen gefunden.

Der Tod als Erzähler ist örtlich und zeitlich überall unterwegs. Er kann sowohl über das Geschehen rund um Liesel in Molching reden, als auch aus Dachau oder Stalingrad berichten. Er nimmt manchmal Ereignisse aus der Zukunft vorweg, um zu zeigen, dass es noch schlimmer wird mit dem Leiden, aber den Horror auch nicht so plötzlich kommen zu lassen. In den Text sind außerdem immer wieder ein paar Sätze durch Ornamente und Fettschrift hervorgehoben. Diese Gedanken und Anmerkungen wirken wie kleine Auszeiten in der Geschichte.

„Sie hungerte nach Worten.“

So beschreibt Max Liesel in der Geschichte über die Worteschüttlerin. In einer Zeit, in der die Menschen um das Überleben kämpfen müssen, werden die Worte für Liesel im übertragenen Sinn ein wichtiger Teil ihrer Nahrung. Sie zieht Kraft aus den Worten und gibt diese Kraft später beim Vorlesen an andere Menschen weiter. So entsteht in einer schrecklichen Zeit, in der die Herrscher Sprache missbrauchen, durch ein kleines Mädchen neue Hoffnung.